Samstag, 9. Juli 2016

Ethische Standards

Also, manchmal frage ich mich schon, in was für einer Welt wir leben. In letzter Zeit beschäftigt mich das Thema Ethik sehr, und darum möchte ich hier zwei der geführten Diskussionen wiedergeben.

In der einen ging es darum, ob es OK ist, an den Computer eines Kollegen zu gehen und dessen E-Mails zu lesen. Grundsätzlich steht in den Geschäftsmails ja nichts Privates drin. Aber mich stört das doch genauso wie der Gedanke, dass Kollegen meine Aktentasche aufmachen und darin herum wühlen oder in den Unterlagen auf meinem Schreibtisch schmökern. Das geht sie doch sowas von überhaupt nichts an! Ich werde ja wohl Unterlagen griffbereit auf dem Schreibtisch liegen haben dürfen, ohne dass die Kollegen sich in meiner Abwesenheit darüber her machen.
Immer wieder werde ich darauf hingewiesen, dass es ja schließlich Richtlinien gäbe, dass Unterlagen weggeschlossen werden müssen und der Rechner passwortgeschützt werden müsse, wenn man auf Toilette gehe. Wer das nicht macht, verhält sich unprofessionell und trägt damit die moralische Verantwortung für alle Spionage seitens der Zimmerkollegen. In einer Firma ist es sogar üblich, dass die Kollegen extra nachsehen, ob jemand die Passwortsperre vergessen hat. Wenn ja, gibts Belohnung. Sie versenden dann nämlich von dessen Computer aus eine E-Mail an alle Kollegen, dass es morgen auf seine Kosten Kuchen gibt. Das finden sie moralisch vollständig in Ordnung und die Kuchenspende sogar noch eine harmlose Strafe für sein fahrlässiges Verhalten.
Was für eine Umkehr ethischer Grundsätze ist denn da passiert? Und wann? Hat das wirklich die Einführung von solchen Unternehmensrichtlinien bewirkt? Kann man das Prinzip verallgemeinern und sagen, dass Sicherheits- und Ethik-Richtlinien plötzlich Verhalten legitimieren, das früher mal als unethisch galt? Ist die Ethik gar ein willkommener Vorwand für Neugier, Sadismus und Mobbing?
Ich glaube, früher gab es mal eine Privatsphäre auch bei der Arbeit, Solidarität und Fehlertoleranz innerhalb des Teams. Ich finde es unethisch, die Kollegen zu überwachen und für ein harmloses Vergehen zu bestrafen, nur weil jemand die Passwortsperre nicht aktiviert, wenn er zur Toilette geht oder in eine Besprechung. Ich finde es auch unethisch, wenn ich meinen Zimmerkollegen misstrauen muss (per Sicherheitsrichtlinie) und sie als mögliche Spione ansehen. Natürlich finde ich es wichtig, sich bewusst zu sein, dass es besser ist, die Passwortsperre zu aktivieren, weil man nicht weiß, ob die Kollegen zufällig auch alle gleichzeitig in eine andere Besprechung gehen und dann ein Spion von außerhalb durch die Büros schleicht. Dann können meine Kollegen meinen Computer nicht beschützen. Genauso macht es ja auch Sinn, seine Brieftasche nicht gut greifbar in die Hosentasche zu stecken. Trotzdem finde ich es unethisch, einem Bestohlenen die Verantwortung für den Diebstahl zuzuschieben und so zu tun als sei der Taschendieb dessen Opfer, der nur das Natürlichste von der Welt getan hat, nämlich in eine fremde Hosentasche zu greifen.

Die zweite Diskussion war gestern. Es ging um den Diebstahl von Schulungsunterlagen. Ja, das Erstellen eines mehrtägigen Kurses samt Literaturrecherche, Powerpointfolien, Grafiken, Übungen und Musterlösungen kostet leicht 50 bis 100 Stunden Arbeit. Ja, man muss dafür hoch konzentriert arbeiten, kompetent die richtige Literatur auswählen, schnell lesen und didaktische Kenntnisse mitbringen. Ja, es ist schwierig, man kann viel dabei falsch machen. Darum kann das vermutlich nicht jeder. Auch diejenigen, die behaupten, keine Zeit dafür zu finden, würden es eventuell fachlich nicht hinbekommen.
So gesehen verstehe ich, dass es für manche Trainer keine andere Chance gibt, als Kursmaterial anderer zu verwenden. Allerdings kann man das auch kaufen oder gegen Lizenz verwenden. Man kann sogar Kursmaterial von anderen kostenlos verwenden, wenn man sie freundlich um Erlaubnis bittet. Mir hat da noch nie jemand "nein" gesagt. Allenfalls gab es Einschränkungen zu beachten wie z.B. dass ich das Material nicht elektronisch herausgeben solle, sondern nur gedruckt. Das geht. Man kann auch jemanden mit der Erstellung beauftragen. Es gibt viele Möglichkeiten, an Kursmaterialien zu kommen. Diebstahl ist aber trotzdem häufig. Ich kann da wilde Geschichten erzählen. In ein paar wenigen Fällen weiß ich es sicher, dass jemand anderer mein Material verwendet, in anderen Fällen war die Geschichte so verkorkst, dass der Diebstahl der Kursunterlagen die einzige logische Erklärung ist.
Gestern also ärgerte ich mich mal wieder über Leute, die so etwas machen. Ich stecke meine Kompetenz und meine Arbeitszeit in dieses Material und andere stehlen es einfach! Die Reaktionen haben mich sehr schockiert. Zuerst hieß es, ich müsse mich darüber freuen, denn kopiert zu werden sei doch das größte Kompliment. Als mich das nicht überzeugte, wurde mir gesagt, der andere würde den Kurs mit demselben Material doch nicht so gut hinbekommen wie ich. Abgesehen davon, dass es "Luftpumpen" (danke an Ben Schulz für den schönen Begriff) gibt, denen es gelingt, auch bei Folienkaraoke und weitgehender Kompetenzlosigkeit noch eine gute Figur zu machen, ist mein Kursmaterial leider so gut, dass es sich selbst erklärt. Die umfangreiche Literaturrecherche, die dahinter steckt, täuscht vor als habe der Foliendieb selbst die Fachliteratur gelesen und die Standards studiert. Mit qualitätsgesicherten Musterlösungen macht man immer eine gute Figur. Ich behaupte mal, dass man sich ziemlich dämlich anstellen muss, wenn man mit meinem Kursmaterial inkompetent wirkt. Außerdem spart man sich damit 50-100 Stunden Arbeit, das ist viel wert. Es ärgert mich vor allem, weil das ja nicht fremde Leute aus dem Internet sind, sondern ehemalige Kollegen, Kursteilnehmer und Kunden, also Leute, denen ich mal vertraut habe. Die kennen mich alle persönlich und bestehlen mich trotzdem.
Üblicherweise wird meine Empörung leider nicht verstanden. Es scheint fast so als würde jeder Kursmaterialien stehlen und darum diesen Brauch verteidigen. Genauso wie allgemein Plagiate für selbstverständlich gelten und laut allgemeingesellschaftlichem Konsens nur bei Politikern nicht erlaubt sind. Gestern hatte ich wenigstens einen Kollegen auf meiner Seite, dem das schon passiert ist. Jemand hatte bei ihm einen Kurs gebucht, nur um sich anschließend genau mit seinem Material, derselben Idee auf demselben Markt selbständig zu machen. Also, das ist doch vorsätzlich, eiskalt berechnend und mit niedrigen Beweggründen!

Andrea Herrmann

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