Prokrastination und Allgemeine Arbeitsunlust (AA) als Teil der deutschen Arbeitskultur
Die letzten Monate beschäftigte ich mich mit Prokrastination, einem Phänomen, das mich deshalb so fasziniert, weil ich es von mir selbst nicht kenne. So als sei ich gegen eine Volkskrankheit immun und erforsche die Ursache dieser Immunität, um ein Impfserum zu entwickeln.
Die gute Nachricht ist, dass ich die Ursache gefunden habe. Die schlechte Nachricht: Die Krankheit ist nur schwer heilbar, da seine Ursache eine zutiefst kulturelle ist. Kultur ist ja laut Hofstede die kollektive Programmierung einer Gruppe von Menschen. Obwohl Hofstede erwähnt, dass jede Eigenschaft in jeder Kultur natürlich verschieden stark ausgeprägt ist, vergisst er zu erwähnen, dass jeder, der aus der Kultur ausschert, kollektiv abgewertet wird und damit entweder ausgeschlossen oder wieder auf Linie gebracht. Ein fühlender Mensch kann darum nur schwer aus einer Kultur ausscheren.
In der deutschen Kultur ist es nach meinen Beobachtungen Konsens, dass Arbeit Schmerzen verursacht. Alle sind darauf konditioniert als hätten sie jedes Mal während der Hausaufgaben Stromstöße verabreicht bekommen. Ja, ich weiß, die Angst vor dem Versagen und so weiter. Auch das ist Teil unserer Kultur, dass man dem Erstklässler, wenn er nicht instantan zu lesen versteht, gleich das Gefühl gibt, dumm zu sein. Und wer keine Eins mit nach Hause bringt, hat sowieso versagt. Didaktisch inzwischen überholt, wird es trotzdem so praktiziert. Selbst Lehrer versuchen manchmal auf schädliche Weise witzig zu sein, indem sie einen Schüler vor der Klasse zum Auslachen und Abschuss frei geben. Wer soll denn in so einer Lernkultur Freude an Wissen und Arbeit erlernen?
Wenn es nur das wäre, könnten wir ja unsere Kindheitserfahrungen hinter uns lassen und später im Traumjob Freude und Fahrt aufnehmen. Aber auch das ist in unserer Kultur nicht nur nicht vorgesehen, sondern verpönt. Wem seine Arbeit Spaß macht, der wirkt bestenfalls lächerlich, meist jedoch wird er als egoistischer Streber, kranker Workaholic, emotionsloser Autist oder zumindest als vage unsympathisch wahrgenommen. Wer akzeptiert hat, dass Arbeit Schmerz verursacht, der muss so schlussfolgern. Meine Arbeit macht mir Freude. Hinter meiner Arbeit steckt eine Vision und Mission. Seit zehn Jahren beschäftige ich mich mit den Entscheidungen, die wir im Arbeitsleben treffen, und darum herrscht bei mir eine wohltuende Klarheit darüber, was ich warum und wozu tue. So dass selbst unangenehme Arbeiten wenn schon nicht unterhaltsam, so doch sinnvoll genug sind, um sorgfältig und zeitnah erledigt zu werden. Eventuell schwebe ich damit auf einer höheren Bewusstseinsstufe, ganz sicher jedoch wirkt dies unsympathisch.
Wenn man sich des gesellschaftlichen Drucks bewusst wird, kann man ihn ignorieren, muss aber auch die Folgen des Außenseitertums tragen. Und das wissen die Prokrastinierer ganz genau. Ich bin inzwischen sicher, dass jeder Mensch jederzeit genau das tut, was er will. Er ist nur, wie die Philosophen schon lange wissen, nicht frei genug, alles zu wollen. Wer prokrastiniert, der leidet nur zum Schein unter seinem Aufschieben, weil es sozial erwartet wird, nicht nur aufzuschieben, sondern sich dabei auch noch schlecht zu fühlen. In Wirklichkeit will er die aufgeschobene Aufgabe gar nicht erledigen. Er weiß nur ganz genau, dass es eine Person (z.B. den Chef) oder eine gesellschaftliche Norm (z.B. Sauberkeitsvorstellungen) gibt, die verlangt, dass er diese Dinge tut, während gleichzeitig andere Signale verlangen, diese Dinge nicht zu tun bzw. nicht gerade jetzt. Egal ob der Prokrastinierer seinen Pflicht tut oder nicht tut, irgendjemand ist dagegen. Darum fühlt er sich ja so zerrissen. Zum Glück oder zum Pech ist Prokrastination inzwischen auch als Krankheit und Ausrede gesellschaftlich anerkannt. Das bekommt man dann zu spüren, wenn man den Teufelsadvokaten spielt und ganz herzlos sagt: „Mach‘s doch einfach. Dann ist es vom Tisch.“ Bei manchen Aufgaben ist die Erleichterung, es hinter sich zu haben, die einzige, aber doch wohltuende Motivation. Arbeit muss ja nicht immer Spaß machen.
Mich schaudert, wenn ich sehe, welche Vorgehen gegen Prokrastination empfohlen wird. Das sind alles Maßnahmen, die darauf abzielen, sich selbst zu bestrafen. Man soll sich selbst behandeln wie eine fremde Person, der man misstraut. Ja, wir sind so schon immer behandelt worden von Leuten, die es angeblich gut mit uns meinen (siehe oben). Wir haben gelernt, dass Motivation dadurch entstehen sollte, dass man Angst vor dem Versagen hat. Dass es nicht funktioniert, scheint keiner zu bemerken bzw. die Schuld dafür bei sich selbst zu suchen. Auch wenn ich sage, dass Arbeit nicht immer Spaß machen muss, werfe ich gleichzeitig die Behauptung in den Ring, dass Arbeit die meiste Zeit Spaß machen sollte. Sonst quält man sich im falschen Beruf oder muss die Ursache suchen. Arbeitsunlust ist zwar normal in dem Sinne, dass sie integraler Teil unserer Kultur ist, aber nicht normal in dem Sinne, dass sie naturgegeben wäre. (Zu diesem Thema empfehle ich das Buch „Lust auf Leistung“ von Prof. von Cube.) Statt die Arbeitsaversion zu bekämpfen und zu unterdrücken, sollte man sie ergründen, so wie jeder Schmerz dazu da ist, ergründet zu werden. Schmerz ist keine Krankheit, sondern eine Alarmsirene, die auf etwas anderes hinweist.
Einzelne sind vielleicht durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im falschen Beruf gelandet. Aber doch nicht so viele! Worin liegt also das Heilmittel gegen Prokrastination und Arbeitsunlust? Ich empfehle zwei ergänzende Ansätze:
Es dauert so ungefähr zehn Jahre, es zu erlernen. Seinen Gefühlen nachzuspüren muss ja nicht bedeuten, ihnen sofort nachzugeben, in einem Messie-Haushalt unterzugehen oder seinen Job zu verlieren, weil man plötzlich nur noch macht, was einen begeistert. Auf diesem Lernprozess durchquert man eine Zwischenphase, wo Fühlen und Handeln nicht übereinstimmen und es ist ja auch nicht sozial erwünscht oder hilfreich, immer nur das zu tun, wonach einem gerade ist. Trotzdem sollte man zumindest wissen, wann man aus welchem guten Grund Kompromisse eingeht. Je besser man seine Wünsche und Vorlieben kennt, umso besser kann man durch allmählichen Übergang sein Leben danach ausrichten, bis Handeln und Fühlen weitgehend übereinstimmen. Dann haben sich auch die Prokrastination erledigt und all diese verkorksten, kopflastigen Selbstbestrafungsmethoden, mit denen man sich selbst wie ein garstiges Kind zu unliebsamen Aufgaben zwingt.
Das Leben ist doch relativ kurz verglichen mit den Möglichkeiten, die sich uns auftun. Und mir fehlen momentan noch handfeste Beweise dafür, dass wir mehrere Leben bekommen. Darum sollte man diese wertvolle begrenzte Zeit damit verbringen, mit sich selbst im Einklang zu sein und die Arbeit tun, die Freude macht – oder sie so zu tun, dass sie Spaß macht.
Andrea Herrmann
Die gute Nachricht ist, dass ich die Ursache gefunden habe. Die schlechte Nachricht: Die Krankheit ist nur schwer heilbar, da seine Ursache eine zutiefst kulturelle ist. Kultur ist ja laut Hofstede die kollektive Programmierung einer Gruppe von Menschen. Obwohl Hofstede erwähnt, dass jede Eigenschaft in jeder Kultur natürlich verschieden stark ausgeprägt ist, vergisst er zu erwähnen, dass jeder, der aus der Kultur ausschert, kollektiv abgewertet wird und damit entweder ausgeschlossen oder wieder auf Linie gebracht. Ein fühlender Mensch kann darum nur schwer aus einer Kultur ausscheren.
In der deutschen Kultur ist es nach meinen Beobachtungen Konsens, dass Arbeit Schmerzen verursacht. Alle sind darauf konditioniert als hätten sie jedes Mal während der Hausaufgaben Stromstöße verabreicht bekommen. Ja, ich weiß, die Angst vor dem Versagen und so weiter. Auch das ist Teil unserer Kultur, dass man dem Erstklässler, wenn er nicht instantan zu lesen versteht, gleich das Gefühl gibt, dumm zu sein. Und wer keine Eins mit nach Hause bringt, hat sowieso versagt. Didaktisch inzwischen überholt, wird es trotzdem so praktiziert. Selbst Lehrer versuchen manchmal auf schädliche Weise witzig zu sein, indem sie einen Schüler vor der Klasse zum Auslachen und Abschuss frei geben. Wer soll denn in so einer Lernkultur Freude an Wissen und Arbeit erlernen?
Wenn es nur das wäre, könnten wir ja unsere Kindheitserfahrungen hinter uns lassen und später im Traumjob Freude und Fahrt aufnehmen. Aber auch das ist in unserer Kultur nicht nur nicht vorgesehen, sondern verpönt. Wem seine Arbeit Spaß macht, der wirkt bestenfalls lächerlich, meist jedoch wird er als egoistischer Streber, kranker Workaholic, emotionsloser Autist oder zumindest als vage unsympathisch wahrgenommen. Wer akzeptiert hat, dass Arbeit Schmerz verursacht, der muss so schlussfolgern. Meine Arbeit macht mir Freude. Hinter meiner Arbeit steckt eine Vision und Mission. Seit zehn Jahren beschäftige ich mich mit den Entscheidungen, die wir im Arbeitsleben treffen, und darum herrscht bei mir eine wohltuende Klarheit darüber, was ich warum und wozu tue. So dass selbst unangenehme Arbeiten wenn schon nicht unterhaltsam, so doch sinnvoll genug sind, um sorgfältig und zeitnah erledigt zu werden. Eventuell schwebe ich damit auf einer höheren Bewusstseinsstufe, ganz sicher jedoch wirkt dies unsympathisch.
Wenn man sich des gesellschaftlichen Drucks bewusst wird, kann man ihn ignorieren, muss aber auch die Folgen des Außenseitertums tragen. Und das wissen die Prokrastinierer ganz genau. Ich bin inzwischen sicher, dass jeder Mensch jederzeit genau das tut, was er will. Er ist nur, wie die Philosophen schon lange wissen, nicht frei genug, alles zu wollen. Wer prokrastiniert, der leidet nur zum Schein unter seinem Aufschieben, weil es sozial erwartet wird, nicht nur aufzuschieben, sondern sich dabei auch noch schlecht zu fühlen. In Wirklichkeit will er die aufgeschobene Aufgabe gar nicht erledigen. Er weiß nur ganz genau, dass es eine Person (z.B. den Chef) oder eine gesellschaftliche Norm (z.B. Sauberkeitsvorstellungen) gibt, die verlangt, dass er diese Dinge tut, während gleichzeitig andere Signale verlangen, diese Dinge nicht zu tun bzw. nicht gerade jetzt. Egal ob der Prokrastinierer seinen Pflicht tut oder nicht tut, irgendjemand ist dagegen. Darum fühlt er sich ja so zerrissen. Zum Glück oder zum Pech ist Prokrastination inzwischen auch als Krankheit und Ausrede gesellschaftlich anerkannt. Das bekommt man dann zu spüren, wenn man den Teufelsadvokaten spielt und ganz herzlos sagt: „Mach‘s doch einfach. Dann ist es vom Tisch.“ Bei manchen Aufgaben ist die Erleichterung, es hinter sich zu haben, die einzige, aber doch wohltuende Motivation. Arbeit muss ja nicht immer Spaß machen.
Mich schaudert, wenn ich sehe, welche Vorgehen gegen Prokrastination empfohlen wird. Das sind alles Maßnahmen, die darauf abzielen, sich selbst zu bestrafen. Man soll sich selbst behandeln wie eine fremde Person, der man misstraut. Ja, wir sind so schon immer behandelt worden von Leuten, die es angeblich gut mit uns meinen (siehe oben). Wir haben gelernt, dass Motivation dadurch entstehen sollte, dass man Angst vor dem Versagen hat. Dass es nicht funktioniert, scheint keiner zu bemerken bzw. die Schuld dafür bei sich selbst zu suchen. Auch wenn ich sage, dass Arbeit nicht immer Spaß machen muss, werfe ich gleichzeitig die Behauptung in den Ring, dass Arbeit die meiste Zeit Spaß machen sollte. Sonst quält man sich im falschen Beruf oder muss die Ursache suchen. Arbeitsunlust ist zwar normal in dem Sinne, dass sie integraler Teil unserer Kultur ist, aber nicht normal in dem Sinne, dass sie naturgegeben wäre. (Zu diesem Thema empfehle ich das Buch „Lust auf Leistung“ von Prof. von Cube.) Statt die Arbeitsaversion zu bekämpfen und zu unterdrücken, sollte man sie ergründen, so wie jeder Schmerz dazu da ist, ergründet zu werden. Schmerz ist keine Krankheit, sondern eine Alarmsirene, die auf etwas anderes hinweist.
Einzelne sind vielleicht durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im falschen Beruf gelandet. Aber doch nicht so viele! Worin liegt also das Heilmittel gegen Prokrastination und Arbeitsunlust? Ich empfehle zwei ergänzende Ansätze:
- Analyse der eigenen Gefühle: Macht mir alles keinen Spaß? Oder nur bestimmte Aufgaben? Was haben diese gemeinsam? Hasst jemand nur seinen Job, dann sollte er einen passenderen suchen. Stört nur die Hausarbeit, könnte eine Reinigungshilfe helfen. Fehlen Englischkenntnisse, kann man die noch erlernen.
- Analyse der aufgeschobenen Aufgabe: Warum habe ich keine Lust darauf? Fehlen noch Informationen? Warum fühlt sie sich schlecht an? Steckt dahinter eventuell ein höheres Ziel, eine Vision, die mich dafür motivieren könnten? Will ich zum Ziel? Will ich zum Erfolg?
Es dauert so ungefähr zehn Jahre, es zu erlernen. Seinen Gefühlen nachzuspüren muss ja nicht bedeuten, ihnen sofort nachzugeben, in einem Messie-Haushalt unterzugehen oder seinen Job zu verlieren, weil man plötzlich nur noch macht, was einen begeistert. Auf diesem Lernprozess durchquert man eine Zwischenphase, wo Fühlen und Handeln nicht übereinstimmen und es ist ja auch nicht sozial erwünscht oder hilfreich, immer nur das zu tun, wonach einem gerade ist. Trotzdem sollte man zumindest wissen, wann man aus welchem guten Grund Kompromisse eingeht. Je besser man seine Wünsche und Vorlieben kennt, umso besser kann man durch allmählichen Übergang sein Leben danach ausrichten, bis Handeln und Fühlen weitgehend übereinstimmen. Dann haben sich auch die Prokrastination erledigt und all diese verkorksten, kopflastigen Selbstbestrafungsmethoden, mit denen man sich selbst wie ein garstiges Kind zu unliebsamen Aufgaben zwingt.
Das Leben ist doch relativ kurz verglichen mit den Möglichkeiten, die sich uns auftun. Und mir fehlen momentan noch handfeste Beweise dafür, dass wir mehrere Leben bekommen. Darum sollte man diese wertvolle begrenzte Zeit damit verbringen, mit sich selbst im Einklang zu sein und die Arbeit tun, die Freude macht – oder sie so zu tun, dass sie Spaß macht.
Andrea Herrmann
AndreaHerrmann - 28. Feb, 20:54