Lothar Seiwert: Ausgetickt - Lieber selbstbestimmt als fremdgesteuert - Abschied vom Zeitmanagement (Buchbesprechung)
Dieses Buch des deutschen Zeitmanagement-Papstes war für mich eine Enttäuschung und bestätigt mich darin, dass im Zeitmanagement ganz neue Methoden her müssen. Meine Methoden sind zwar nicht so schön simpel oder plakativ wie das, was die Gurus von sich geben. Aber mir helfen sie besser als die vorhandenen Bücher.
Während Seiwert in seinem "1x1 des Zeitmanagements" bei den absoluten Basistechniken stehen bleibt, die allein leider ein gutes Zeitmanagement noch nicht garantieren, sondern ihm nur den Boden bereiten, pendelt er in "Ausgetickt" ins andere Extrem. Er gibt allgemeingültige Ratschläge, die so in aller Konsequenz nur von wenigen Menschen umgesetzt werden können. Ja, natürlich, er schreibt dieses Buch für diejenigen, die genauso unabhängig, konsequent, risikofreudig, diszipliniert etc. sind wie er. Alle anderen lässt er ohne Reue in den Niederungen der abhängigen Beschäftigung und mühsamen, sinnlosen Arbeit hinter sich zurück. Uarg!
Dabei stört es ihn nicht, dass er seine brutalen und allgemeingültigen Behauptungen nicht wirklich belegt und dass sie sich - wie kann es anders sein - wechselseitig widersprechen. Beispiel: Zuerst behauptet er, Stress komme unter anderem von Fremdbestimmtheit und Abhängigkeit von anderen. Sein Pseudobeweis dafür sind zehn Männer, die er wegen ihres Charismas, ihrer Disziplin oder Souveränität bewundert und die laut seiner Behauptung vollständig selbstbestimmt agieren. Ich persönlich würde ja sofort unterschreiben, dass mir Fremdbestimmtheit Stress verursacht, aber ich weiß auch, dass es bei anderen Menschen umgekehrt ist. Da Menschen nunmal verschieden sind. Und das ist ja auch gut so, denn eine Firma kann nicht nur aus Chefs bestehen und eine Regierung nicht nur aus Präsidenten. Später im Buch preist Seiwert diejenigen, die delegieren können und dadurch nur noch 4 Stunden pro Woche zu arbeiten brauchen. Dadurch sind sie gar nicht abhängig von anderen oder was? Und um den Widerspruch vollständig zu machen, lästert Seiwert über diejenigen, die Arbeit als etwas Vermeidenswertes sehen. Er selbst arbeitet angeblich 168 Stunden pro Woche, weil er keinen Unterschied zwischen "Arbeit" und "Leben" macht. Warum ist die 4-Stunden-Woche dann so cool und erstrebenswert? Ulkig, dass Seiwert selbst ganz vorne im Buch Menschen, die viele Stunden arbeitet, als Workaholics abstempelt, so als sei eine Suchtkrankheit die einzige mögliche Erklärung für Überstunden. (Mir fallen da noch ein paar andere ein!). In seiner Überheblichkeit behauptet er pauschal, dass alle, die viel arbeiten, ineffizient sind. Ganz im Gegensatz zu ihm??
Bei all diesen Widersprüchen fällt es mir schwer, die Botschaft zu entziffern, die mit diesem Sammelsurium an Pauschalurteilen übermittelt werden soll. Was bitte soll ich verbessern? Ach ja, ich soll souverän denken. Und dabei kommt dann vermutlich so ein Buch heraus.
Ich finde, Seiwerts Buch ist ein Schlag ins Gesicht von allen, die echte Arbeit leisten und / oder aus persönlichen Gründen leider von einem Chef und anderen Personen abhängig sind. Ja, ja, Seiwert betont auch, dass eine Wirtschaft nur funktioniert, wenn es auch Leute wie ihn gibt, die echte Arbeit leisten und sich dabei nicht auf andere verlassen. Aber er behauptet auch, dass Zeitmanagement-Techniken nur denjenigen helfen, die Entscheidungen über Prioritäten treffen können. Ich würde eher sagen: "dürfen"! Seiwert behauptet, wenn ein Mitarbeiter seine Prioritäten selbst setzt, dann habe er keinen Stress. Oh, weia! Erstens sind mir solche Kollegen ein Greuel, die so souverän ihre Prioritäten selbst setzen, dass sie ihr Team grundsätzlich im Stich lassen. Zweitens gibt es immer noch Chefs, die dafür sorgen, dass Selbst-Priorisierer sehr wohl Stress bekommen. Nicht alle Chefs sind so konsequent, aber wenn sie es nicht sind, kippt das Arbeitsklima ruckzuck in Anarchie um. Nun gut, in der Anarchie hat ja dann auch keiner mehr Stress!
Seiwert stellt fest, dass sinnlose Arbeit Stress verursacht. Aber gibt es Arbeit ohne Sinn? Würde der Arbeit- oder Auftraggeber Geld für sinnlose Ergebnisse ausgeben? Und selbst wenn: Was keinen Sinn hat, hat meist immerhin einen Grund. Manchmal lässt es sich auch mittelfristig abschaffen. Aber vorerst muss es irgendeiner machen. Ich glaube, viel öfter ist es umgekehrt: Unter Burnout scheint alles keinen Sinn mehr zu machen. Dieser Zweifel am Sinn von zuvor geliebtern Aufgaben ist geradezu ein Symptom des voranschreitenden Burnouts und eine sinnvolle Schutzmaßnahme unseres Organismus vor Überlast. Ich persönlich denke, dass man seine Arbeit machen sollte, auch wenn sie einem sinnlos erscheint. Immerhin bekommt man Geld dafür. Das muss als Motivation genügen. Da besonders der für mich sinnlose Papierkram (der aber für die Reisekostenstelle oder das Finanzamt sehr sinnvoll ist) mich geistig nicht auslastet, höre ich dabei eben Musik. Letztlich verursacht nicht die Sinnlosigkeit der Aufgabe Stress, sondern nur meine Gegenwehr. Zu akzeptieren, was man nicht ändern kann, ist manchmal auch eine gute Strategie. Manchmal, nicht immer. Natürlich betont auch Seiwert, dass man Stress reduziert, indem man die Welt nimmt, wie sie ist. Klar. Aber das widerspricht wiederum seinen anderen Ratschlägen, nach Freiheit zu streben und keine sinnlosen Tätigkeiten (selbst) auszuführen.
Das Buch endet in der Forderung einer geistigen Transformation. Hier wird es spannend, aber leider verrät Seiwert uns nicht, wohin wir transformieren sollen und wie wir das machen. (Ich hätte da ein paar konkrete Ideen, aber dazu mehr in meinem eigenen Buch. Ist noch nicht fertig.)
Kurz und gut: Obwohl ich in vielem mit Seiwert übereinstimme, kann ich so allgemeingültige Aussagen, die zuverlässige, fleißige und abhängige Menschen als dämlich hinstellen, nicht gut heißen. Ich finde, Zeitmanagement ist dazu da, auch Teamarbeit und Zuverlässigkeit zu unterstützen.
Ja, ich weiß, es ist immer leichter, an einem Buch herum zu nörgeln als selbst eines zu schreiben. Allerdings befinde ich mich mit meinen eigenen Methoden noch in der Evaluierungsphase. Was bei mir funktioniert, ist nicht notwendigerweise für andere der richtige Weg. Ich lote noch aus, wo und wann und wie, wo liegen die Grenzen, warum und warum nicht etc. Ein fundiertes Buch verlangt ein solides Fundament.
So, nun, ich gehe dann mal jemandem das Feedback zuschicken, das ich ihm gestern versprochen habe. Danach bringe ich pünktlich eine Tasche Bücher in die Stadtbibliothek zurück. Und lasse mich von Seiwert nicht verunsichern.
Andrea Herrmann
Während Seiwert in seinem "1x1 des Zeitmanagements" bei den absoluten Basistechniken stehen bleibt, die allein leider ein gutes Zeitmanagement noch nicht garantieren, sondern ihm nur den Boden bereiten, pendelt er in "Ausgetickt" ins andere Extrem. Er gibt allgemeingültige Ratschläge, die so in aller Konsequenz nur von wenigen Menschen umgesetzt werden können. Ja, natürlich, er schreibt dieses Buch für diejenigen, die genauso unabhängig, konsequent, risikofreudig, diszipliniert etc. sind wie er. Alle anderen lässt er ohne Reue in den Niederungen der abhängigen Beschäftigung und mühsamen, sinnlosen Arbeit hinter sich zurück. Uarg!
Dabei stört es ihn nicht, dass er seine brutalen und allgemeingültigen Behauptungen nicht wirklich belegt und dass sie sich - wie kann es anders sein - wechselseitig widersprechen. Beispiel: Zuerst behauptet er, Stress komme unter anderem von Fremdbestimmtheit und Abhängigkeit von anderen. Sein Pseudobeweis dafür sind zehn Männer, die er wegen ihres Charismas, ihrer Disziplin oder Souveränität bewundert und die laut seiner Behauptung vollständig selbstbestimmt agieren. Ich persönlich würde ja sofort unterschreiben, dass mir Fremdbestimmtheit Stress verursacht, aber ich weiß auch, dass es bei anderen Menschen umgekehrt ist. Da Menschen nunmal verschieden sind. Und das ist ja auch gut so, denn eine Firma kann nicht nur aus Chefs bestehen und eine Regierung nicht nur aus Präsidenten. Später im Buch preist Seiwert diejenigen, die delegieren können und dadurch nur noch 4 Stunden pro Woche zu arbeiten brauchen. Dadurch sind sie gar nicht abhängig von anderen oder was? Und um den Widerspruch vollständig zu machen, lästert Seiwert über diejenigen, die Arbeit als etwas Vermeidenswertes sehen. Er selbst arbeitet angeblich 168 Stunden pro Woche, weil er keinen Unterschied zwischen "Arbeit" und "Leben" macht. Warum ist die 4-Stunden-Woche dann so cool und erstrebenswert? Ulkig, dass Seiwert selbst ganz vorne im Buch Menschen, die viele Stunden arbeitet, als Workaholics abstempelt, so als sei eine Suchtkrankheit die einzige mögliche Erklärung für Überstunden. (Mir fallen da noch ein paar andere ein!). In seiner Überheblichkeit behauptet er pauschal, dass alle, die viel arbeiten, ineffizient sind. Ganz im Gegensatz zu ihm??
Bei all diesen Widersprüchen fällt es mir schwer, die Botschaft zu entziffern, die mit diesem Sammelsurium an Pauschalurteilen übermittelt werden soll. Was bitte soll ich verbessern? Ach ja, ich soll souverän denken. Und dabei kommt dann vermutlich so ein Buch heraus.
Ich finde, Seiwerts Buch ist ein Schlag ins Gesicht von allen, die echte Arbeit leisten und / oder aus persönlichen Gründen leider von einem Chef und anderen Personen abhängig sind. Ja, ja, Seiwert betont auch, dass eine Wirtschaft nur funktioniert, wenn es auch Leute wie ihn gibt, die echte Arbeit leisten und sich dabei nicht auf andere verlassen. Aber er behauptet auch, dass Zeitmanagement-Techniken nur denjenigen helfen, die Entscheidungen über Prioritäten treffen können. Ich würde eher sagen: "dürfen"! Seiwert behauptet, wenn ein Mitarbeiter seine Prioritäten selbst setzt, dann habe er keinen Stress. Oh, weia! Erstens sind mir solche Kollegen ein Greuel, die so souverän ihre Prioritäten selbst setzen, dass sie ihr Team grundsätzlich im Stich lassen. Zweitens gibt es immer noch Chefs, die dafür sorgen, dass Selbst-Priorisierer sehr wohl Stress bekommen. Nicht alle Chefs sind so konsequent, aber wenn sie es nicht sind, kippt das Arbeitsklima ruckzuck in Anarchie um. Nun gut, in der Anarchie hat ja dann auch keiner mehr Stress!
Seiwert stellt fest, dass sinnlose Arbeit Stress verursacht. Aber gibt es Arbeit ohne Sinn? Würde der Arbeit- oder Auftraggeber Geld für sinnlose Ergebnisse ausgeben? Und selbst wenn: Was keinen Sinn hat, hat meist immerhin einen Grund. Manchmal lässt es sich auch mittelfristig abschaffen. Aber vorerst muss es irgendeiner machen. Ich glaube, viel öfter ist es umgekehrt: Unter Burnout scheint alles keinen Sinn mehr zu machen. Dieser Zweifel am Sinn von zuvor geliebtern Aufgaben ist geradezu ein Symptom des voranschreitenden Burnouts und eine sinnvolle Schutzmaßnahme unseres Organismus vor Überlast. Ich persönlich denke, dass man seine Arbeit machen sollte, auch wenn sie einem sinnlos erscheint. Immerhin bekommt man Geld dafür. Das muss als Motivation genügen. Da besonders der für mich sinnlose Papierkram (der aber für die Reisekostenstelle oder das Finanzamt sehr sinnvoll ist) mich geistig nicht auslastet, höre ich dabei eben Musik. Letztlich verursacht nicht die Sinnlosigkeit der Aufgabe Stress, sondern nur meine Gegenwehr. Zu akzeptieren, was man nicht ändern kann, ist manchmal auch eine gute Strategie. Manchmal, nicht immer. Natürlich betont auch Seiwert, dass man Stress reduziert, indem man die Welt nimmt, wie sie ist. Klar. Aber das widerspricht wiederum seinen anderen Ratschlägen, nach Freiheit zu streben und keine sinnlosen Tätigkeiten (selbst) auszuführen.
Das Buch endet in der Forderung einer geistigen Transformation. Hier wird es spannend, aber leider verrät Seiwert uns nicht, wohin wir transformieren sollen und wie wir das machen. (Ich hätte da ein paar konkrete Ideen, aber dazu mehr in meinem eigenen Buch. Ist noch nicht fertig.)
Kurz und gut: Obwohl ich in vielem mit Seiwert übereinstimme, kann ich so allgemeingültige Aussagen, die zuverlässige, fleißige und abhängige Menschen als dämlich hinstellen, nicht gut heißen. Ich finde, Zeitmanagement ist dazu da, auch Teamarbeit und Zuverlässigkeit zu unterstützen.
Ja, ich weiß, es ist immer leichter, an einem Buch herum zu nörgeln als selbst eines zu schreiben. Allerdings befinde ich mich mit meinen eigenen Methoden noch in der Evaluierungsphase. Was bei mir funktioniert, ist nicht notwendigerweise für andere der richtige Weg. Ich lote noch aus, wo und wann und wie, wo liegen die Grenzen, warum und warum nicht etc. Ein fundiertes Buch verlangt ein solides Fundament.
So, nun, ich gehe dann mal jemandem das Feedback zuschicken, das ich ihm gestern versprochen habe. Danach bringe ich pünktlich eine Tasche Bücher in die Stadtbibliothek zurück. Und lasse mich von Seiwert nicht verunsichern.
Andrea Herrmann
AndreaHerrmann - 4. Jan, 12:36